Am 17. Januar 2020 ging die neue app-geführte Museumstour des Fugger und Welser Erlebnismuseums in Betrieb. Die Webseite beschreibt diese so:
Der Sklave Perico gehörte im 16. Jahrhundert der Augsburger Kaufmannsfamilie Welser. […] Wer wissen möchte, was mit dem 15-jährigen Sklaven passiert sein könnte, sucht die im Museum verteilten Informationen und Codes. […] Auf anschauliche und somit auch einprägsame Weise erhält man einen Einblick in die unmenschlichen Bedingungen der Sklaverei des 16. Jahrhunderts, an der auch Augsburger Handelsgesellschaften beteiligt waren.
Zunächst finden wir von Augsburg Postkolonial – Decolonize Yourself es wichtig und überfällig, sich mehr als bisher mit den direkten wie indirekten Verflechtungen der Fugger und Welser in den frühen transatlantischen Versklavungshandel zu beschäftigen: Sklavenhandel, Ausbeutung von Arbeitskraft und Bodenschätzen, illegale Landnahme, Finanzierung von Kolonialvorhaben.
Gleichzeitig kann die App dieses Versprechen nach einem Einblick in die unmenschlichen Bedingungen der Sklaverei nicht einhalten, sondern sie reproduziert rassistische Stereotype von versklavten Menschen und glorifizierende Narrative der Welser als „gute Herren“ und erfolgreichen „Global Playern“.
Anmerkung: eine vergleichbare App, bei der ein jüdischer Junge die Besucher*innen zum Beispiel durch das NS-Dokumentationszentrum in München führt, und die App-Nutzer*innen auf eine Abenteuerreise mitnimmt sowie Partei für seine Peiniger*innen ergreift, ist zu recht undenkbar.
Die angeführten Kritikpunkte sind dem Museum schon lange bekannt, da bereits vor der Veröffentlichung der App ein kritischer Austausch zwischen den Autor*innen und den Museumsverantwortlichen bestand. Direkt nach dem Launch der App wurde diese von den Autor*innen, Mitgliedern von Augsburg Postkolonial und Vertreter*innen der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland getestet und auf Nachfrage der Museumsverantwortlichen ein ausführliches Papier mit Kritikpunkten erstellt. Diese Expertise forderte eine völlige Neukonzeption ohne die ahistorisch denkend und handelnde Figur des Perico und ein Herunternehmen der App. Seitdem ist bis auf kleinere Formulierungsänderungen im Ankündigungstext der Homepage nichts passiert
In ihrem Beitrag Eine Erzählung in der Tradition des Kolonialrevisionismus: Der neue Augsburger Museums-Sklave Perico – Wie eine vermeintlich kritische Museumstour Kolonialismus verharmlost und Rassismus reproduziert (Die Augsburger Zeitung, 23. Juli 2020) stellen Ina Hagen-Jeske, Philipp Bernhard und Claas Henschel ihre Bedenken dar.
Zusammenfassung der Kritikpunkte:
- wenig historisch fundierte Informationen über den Versklavungshandel
- Fortschreibung des Narrativs, die europäischen Expansion als „Erfolgsgeschichte“ zu lesen: Dass die Fugger und Welser vom transatlantischen Versklavungshandel profitiert haben, wird nur am Rande erwähnt. Der Fokus richtet sich auf die globalwirtschaftliche „Erfolgsgeschichte“ der Welser als „gute Herren“ und erfolgreiche Geschäftsleute
- mangelnde Quellenlage: das Museum stützt sich bei der Figur des versklavten Jungen Perico auf lediglich zwei Quellen. Die Wissenschaftler*innen kritisieren, dass die kurzen Quellennennungen jedoch offen lassen, ob es sich um zwei verschiedene historische Personen handelt. Die in der App präsentierte Biografie ist eine erfundene Geschichte. Das Problem liegt dabei nicht beim Digital Storytelling und der Geschichtsvermittlung durch spielerische und digitale Methoden, so die Autor*innen, sondern bei dem Anspruch auf Repräsentativität
- Verharmlosung des Versklavungshandels: der Protagonist Perico ist fröhlich, erlebt sein Leben als versklavte Person als Abenteuer und unterwirft sich „treu“ seinen Sklavenhaltern. Diese Erzählung, so Hagen-Jeske, Bernhard und Henschel, „steht in der Tradition des Kolonialrevisionismus, der die gewaltsame Eroberungsgeschichte der Kolonien zu einer europäischen Abenteuerfantasie verdrehte“.
- Passive Rolle des versklavten Perico: Der Protagonist bekämpft und beklagt sein Schicksal der Zwangsarbeit nicht, sondern ergibt sich treu seinen Sklavenhaltern. Die Wissenschaftler*innen merken an, dass er somit nicht stellvertretend für Millionen versklavter Menschen steht, deren Leben durch Ausbeutung und Ermordung geprägt war, und die sich auch aktiv gegen ihre Versklavung wehrten.
- Übernahme der Perspektive von Sklavenhändler*innen: an einer Station sollen die App-Nutzer*innen spielerisch den gesteigerten Wert Pericos für den Verkauf errechnen. Durch die Übernahme der Sklavenhalter-Perspektive – so erklären es die Autor*innen – werden Machtverhältnisse weitergegeben, die die Grundlage von rassistischen Handlungen bilden.
- Mangelnde Sensibilität gegenüber Nachfahren versklavter Menschen: Nachfahren von versklavten Personen, die dieses Museum besuchen möchten, werden ihre Familiengeschichte keineswegs als „Abenteuer“ verstehen. Die Verharmlosung sowie die Einnahme der Täter*innenrolle könnte nachhaltig verstören.
Fazit der Wissenschaftler*innen:
Am Beispiel der für Jugendliche konzipierten Museumstour zeigt sich eindrucksvoll, wie vermeintlich gut gemeinte und innovative Bildungsformate Rassismus reproduzieren können. […]Diese Museumstour zeigt außerdem wie komplex der Weg hin zu einer differenzierten, multiperspektivischen, fundierten Auseinandersetzung mit der Versklavungsgeschichte Deutschlands ist. Diese Debatte greift natürlich in den Kern des historischen Selbstverständnisses der Fuggerstadt ein, muss jedoch geführt werden, wenn Augsburg weiterhin auch den Titel Friedensstadt für sich in Anspruch nehmen möchte. Die kritische Reflexion setzt voraus, dass ein größeres Bewusstsein für die deutsche Versklavungs- und Kolonialgeschichte innerhalb der Stadtgesellschaft vorhanden ist. Nur dann kann eine Dekolonialisierung von Museen – auch von kleineren nichtstaatlichen – gelingen.
Nachtrag vom 04.08.2020: Die App wurde aufgrund der massiven Kritik vorerst eingestellt und soll überarbeitet werden.
Presseberichterstattung zur Museumsapp:
23.07.2020 – Die Augsburger Zeitung, Dr. Ina Hagen-Jeske, Philipp Bernhard, Claas Henschel: Eine Erzählung in der Tradition des Kolonialrevisionismus: Der neue Augsburger Museums-Sklave Perico
28.07.2020 – Augsburger Allgemeine, Richard Mayr: Kritik am Fugger und Welser MuseumScharfe Kritik am Fugger und Welser Museum – Print (29.07.2020) – pdf hier
28.07.2020 – Augsburger Allgemeine, Richard Mayr: Kritik am Fugger und Welser MuseumScharfe Kritik am Fugger und Welser Museum – Print (29.07.2020) pdf hier: AZ-29.07.2020-Museumsapp
31.07.2020 – Augsburger Allgemeine, Richard Mayr: Fugger und Welser Museum: Umstrittene Sklavenjungen-App wird abgeschaltet – Print (01.08.2020) pdf hier: AZ-01.08.2020-Museumsapp
01.08.2020 – Bayerischer Rundfunk, Mario Kubina und Andrea Trübenbacher: Ärger um App: Augsburger Fugger und Welser Museum reagiert
01.08.2020 – Die Augsburger Zeitung, Siegfried Zagler: Nach öffentlicher Kritik: Fugger/Welser-Erlebnismuseum nimmt skandalöse App aus dem Betrieb
03.08.2020 – Augsburger Stadtzeitung, Laura Türk: Sklavenjungen-Führung im Fugger und Welser Museum nach Kritik eingestellt
Ein Kommentar zu “„Auf der Spur des Sklaven Perico!“ -postkoloniale Kritik an der digitalen Tour in der neuen Museums-App des Fugger- und Welser-Erlebnismuseum”